Das Telefon klingelt. Und klingelt. Und klingelt erneut.
"Unbekannter Teilnehmer". "Unbekannter Teilnehmer". "Unbekannter Teilnehmer".
Der, der da anruft, ist Ezra Blazer, um die 70, berühmter Schriftsteller, ewiger Literaturnobelpreisanwärter. Die, die er anruft, ist Mary-Alice, 27, Assistentin in einer Literaturagentur. Er hat sie in einem Café, nun ja, für sich entdeckt. Seither führen sie eine dieser Liebesbeziehungen, die keine sind. Und er ist Urheber aller Handlung: Sie beginnt, wenn er anruft, und endet, indem er Nat King Coles "The Party is over" summt. Er stellt ihr Taschen voller Bücher hin, auf dass sie Camus lese und Hannah Arendt, er steckt ihr Dutzende Hundertdollarscheine zu, damit sie eine Klimaanlage kauft, bestellt ihr Wintermäntel im teuersten Haus der Stadt. Er gibt ihr andere Namen und Rollen, als Assistentin oder Patentochter.
"Unbekannter Teilnehmer" also: Eine grandiosere Chiffre für eine Romanfigur, deren Konturen verschwimmen sollen, hat sich wohl niemand zuvor ausgedacht. Dass diese Unbestimmtheit ausgerechnet einer abbekommt, der alles daran setzt, die Story zu definieren, ist nur ein Hinweis, wie subtil vielschichtig Lisa Halliday ihr Romandebüt "Asymmetrie" aufgebaut hat. In drei Teilen, die sich am Schluss zur fulminanten Befreiungscollage zusammenfügen.
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Auf den ersten Blick wirkt das Genre vertraut: Älterer jüdischer Autor in New York, der sich jüngere Frauen als Musen pflückt, quasi im Vorbeigehen, auf ihre Bewunderung bauend, aus ihrem Jungsein schöpfend. Nur dass Halliday die Story umdreht: hin zum Blick von Mary-Alice. Doch dabei bleibt es nicht.
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Momente, in denen sich Macht verschiebt
Das Wesen von Asymmetrie ist die Ungleichheit, wenn eine exakte Spiegelung der Dinge unmöglich wird. In diesem Sinne miss-spiegelt Halliday ihren Roman mehrfach in sich selbst und in ihrer eigenen Geschichte. Zum einen, weil die Anfang 40-Jährige in ihren Zwanzigern mit dem im Mai verstorbenen Philip Roth liiert war, wie sie in der "New York Times" erzählte . Jenem Schriftsteller also, der jahrzehntelang auf die höchste Auszeichnung des Literaturbetriebs hoffte, und dessen Romane vor allem Versionen einer Selbstbespiegelung waren.
Sie spielt mit dem Schlüsselroman-Moment, klar, doch Lisa Halliday, die schon in ihrer Kurzgeschichte "Stump Louie" feiert, wie unabhängig Kunst machen kann , demonstriert mit ihrem Debüt vor allem einen Akt der Emanzipation: überall Momente, in denen sich Macht verschiebt.
So taucht bei Ezra und Mary-Alice alsbald seine Altersgebrechlichkeit auf, sie legt emotionale Robustheit an den Tag. Keinen Bock mehr auf Momente, in denen sie feststellt: "Ihr Magen fühlte sich an als stünde sie immer noch bei ihm im Aufzug und jemand hätte das Drahtseil durchgetrennt." Und wenn das Telefon klingelt, na, so what?
Vor allem aber ist der Roman nichts weniger als eine souveräne Werkschau in drei brillant dichten Kammerstücken. "Verrücktheit", der narrative Rahmen, zieht sich entlang der Literaturnobelpreisvergabe an Imre Kertesz, J. M. Coetzee und Elfriede Jelinek, zwischen Ezra Blazers Wohnung, seiner Landvilla am See und ihrer Wohnung.
Der zweite Teil, "Wahnsinn", ist ein Schnitt: Wir hängen mit dem US-Bürger und frisch promovierten Ökonomen Amar Ala Jaafari für 23 Stunden im Transitbereich von London Heathrow fest. Weil er beim Stopover auf dem Flug zu seinem Bruder im Irak aus ungenannten Gründen englischen Boden nicht betreten darf. Also sitzt er da und erinnert sich. Fetzen, die ganze Jahrzehnte umfassen und in denen das unvorstellbare Drama einer Migrantenidentität aufscheint.
Ein Roman im Roman, wie der Rahmen impliziert: Auf Ezras Frage, worüber sie selbst denn schreiben wolle, antwortet Mary-Alice einmal: "Krieg. Diktaturen. Weltangelegenheiten", denn, Seitenhieb: "Es kommt mir uninteressant vor, über mich selbst zu schreiben."
Diesen Ich-Fokus führt Halliday dann im dritten Teil weiter: als Transkript einer Radiosendung. Es ist der umwerfend notierte Dialog zwischen Ezra und der Moderatorin des legendären BBC-Formats "Desert Island Discs" . An dessen Ende der Alte die Frau live angräbt. Einfach weil er denkt, dass er es kann.
Das "Mansplaining" des alternden Ezra Blazer, die altbekannte Ausnutzungshierarchie zwischen Meister und Muse, all das wird erst aufgezeigt, dann aufgekündigt; mittendrin Amar mit seiner Dazwischen-Identität, einst geboren im Flugzeug zwischen Irak und USA. Alice wie Lisa Halliday überschreiben diese Schichten. Mit etwas Neuem. Und stellen sich als Autorinnen ihrer Selbst ins Licht.
Hallidays Dreiteiler schleicht sich subtil an, aber er stellt mit einem Rumms eine der existenziellsten Fragen unserer Zeit: Die, wer die Rolle in unserer eigenen Geschichte bestimmen kann. Egal ob die Autoren dahinter Regierungen sind. Oder Typen, die meinen, Frauen das Leben erklären zu müssen. Am besten einfach klingeln lassen.
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