Natürlich darf die Wissenschaft Menschen nicht in Käfige einsperren, um mit ihnen Experimente zu machen. Das wäre unethisch. Manche Forscher haben aber einen Trick gefunden, wie sie diese Hürde umgehen können: Sie warten einfach ab, bis Homo sapiens sich selbst einsperrt. Das tun jeden Tag eine Milliarde Menschen: Sie fahren Fahrstuhl. Wie verhalten sich fremde Menschen, wenn sie auf so engem Raum zusammen sind? Ein Fall für die Fahrstuhlsoziologie. Und auch in Architektur, Kulturwissenschaft und dem Ingenieurwesen ist der Fahrstuhl ein beliebtes Forschungsfeld. Die Physiker bleiben vorerst bei der Theorie: Sie denken über Aufzüge im freien Fall und einen Lift ins Weltall nach.
Wenn Menschen, die sich nicht kennen, gemeinsam Fahrstuhl fahren, schweigen sie meistens und schauen zu Boden oder zur Wand. Warum? 1962 zeigte der Sozialpsychologe Solomon Asch, dass unter Fahrstuhlnutzern Gruppendruck herrscht. Er filmte Menschen im Lift mit versteckter Kamera. Drei bis vier Schauspieler gesellten sich zu der ahnungslosen Versuchsperson und stellten sich mit dem Gesicht zur Wand. Die Kamerabilder zeigen, wie der Drang, es den anderen gleichzutun, die Probanden verwirrte: Ein Mann schaute nervös auf die Uhr, ein anderer verlegen zu Boden. Bei den meisten siegte schließlich der Herdentrieb – sie drehten sich zur Wand.
Im Jahr 1999 veröffentlichte der Soziologe Stefan Hirschauer einen weiteren Meilenstein der Fahrstuhlforschung. "Die Praxis der Fremdheit und die Minimierung von Anwesenheit" heißt sein 24-seitiger Aufsatz im Fachblatt Soziale Welt. Im Aufzug stehen Fremde für kurze Zeit nah beieinander. Doch kaum jemand versucht, die Anonymität zu überwinden. Stattdessen begegnen sich fast alle zunächst mit civil inattention, was Hirschauer mit "höfliche Nichtbeachtung" übersetzt. Das Phänomen ist aus vielen Alltagssituationen bekannt: Man zeigt ein wohldosiertes Desinteresse, ohne sich dabei zu missachten. Blickkontakte bleiben flüchtig, gesprochen wird in der Regel nicht. Dieses Verhalten liegt so im Blut, dass es gar nicht auffällt. Im Fahrstuhl jedoch funktioniert die höfliche Nichtbeachtung nur begrenzt. Dafür steht man zu nah beieinander. Und da eine Fahrt oft länger als ein paar Sekunden dauert, ist es schwierig, das Desinteresse aufrechtzuerhalten – es erscheint zunehmend gespielt. Die Fahrgäste fühlen sich bloßgestellt. Deshalb starren sie Löcher in die Luft oder fixieren die Anzeige. "Der abgewandte Blick muß die körperliche Nähe als Beziehungszeichen dementieren", schreibt Stefan Hirschauer.
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Der jüngste Beitrag zur Fahrstuhlsoziologie stammt von der Kognitionswissenschaftlerin Rebekah Rousi. Sie beobachtete, dass Alter, Geschlecht und Beruf beeinflussen, wo Menschen sich im Lift hinstellen und was sie tun. So lehnen ältere, erfolgreiche Männer meist an der Aufzugwand. Jüngere drängeln sich dagegen in die Mitte. Frauen stellen sich meist vor die Tür. Sie schauen auch lieber auf den Boden, während Männer die Stockwerksanzeige fixieren. Allerdings: Rousi forscht im australischen Adelaide. Ob das Verhalten von der Kultur abhängt oder aber eine anthropologische Konstante darstellt, müssen weitere Arbeiten zeigen.
Im Laufe der Jahrhunderte hat sich die Technik des Lifts grundlegend verändert. Grob gesagt sind Fahrstühle immer sicherer und schneller geworden. Schon die alten Römer besaßen ein Aufzugsystem für Menschen. Es dauerte aber viele Jahrhunderte, bis Fahrstühle zum Alltag gehörten. Seit dem Mittelalter wurden sie vor allem im Bergbau genutzt, um die Arbeiter zu den Stollen zu befördern. Nicht selten riss das Zugseil, und die Männer stürzten in den Tod.
Die Wende in Sachen Sicherheit kam mit einem waghalsigen Experiment: Vor vielen Schaulustigen ließ sich Elisha Graves Otis 1853 auf der New Yorker Weltausstellung mit einer Aufzugplattform nach oben ziehen, bis er hoch über ihren Köpfen schwebte. Dann befahl der Mechaniker zum Entsetzen der Menge, das Tragseil der Plattform mit einer Axt zu durchtrennen. Die Plattform fiel nach unten – aber nur für einige Sekunden. Abrupt stoppte sie, und Otis verkündete stolz: "All safe, gentlemen, all safe."
Otis hatte die automatische Fangvorrichtung erfunden. Über der Aufzugplattform baute er horizontal eine Feder ein. Riss das Zugseil, sprang die Feder nach außen und verkantete sich in den Führungsschienen. Diese Technik war der Durchbruch. In wenigen Jahrzehnten verbreitete sich der Aufzug weltweit. Die Otis Elevator Company ist heute Weltmarktführer.
Neben der Sicherheit waren Fortschritte in der Antriebstechnik entscheidend. Ab 1857 bewegte eine Dampfmaschine Personenaufzüge. Die Maschine zog ein Zugseil, das an einer Trommel befestigt war. Nachteil: Die Trommel begrenzte die Seillänge. Große Höhen erreichten diese Fahrstühle nicht.
Das änderte sich mit der Entdeckung der Treibscheibe. Sie stammt aus dem Bergbau: 1877 kam der Ingenieur Carl Friedrich Koepe auf die Idee, eine Scheibe über einem Zechenschacht zu befestigen und das Zugseil auf sie zu legen. Gewichte an beiden Seilenden hielten und bewegten den Aufzug, der von nun an große Höhen überwinden konnte.
Ein sehr interessanter Artikel über Geschichte, Technik und filmischer Nutzung des Aufzuges. Nur die Überschrift passt nicht so ganz.
Genau das habe ich auch gerade gedacht.
Spannender Beitrag zu einem vernachlässigten Thema. Denn obwohl wir als Großstadtmenschen den Aufzug, Fahrstuhl oder Lift täglich benutzen, ist er ein Nicht-Ort und über Nicht-Orte schreibt man nicht beziehundweise nur, wenn sie nicht funktionieren. Ein Phänomen hat dem Aufzug allerdings in den vergangenen Jahren zu ungeahnter Popularität verholfen: das Fahrstuhlselfie. Diesem Aspekt der vertikalen Mobilität habe ich im Aufzugsblog Senkrechtstarter einen kleinen Beitrag gewidmet: https://senkrechtstarter-blo…
Unterhaltsamer Artikel. Die Sternenfänger sind eher etwas für asiatische und in Zukunft für die afrikanische Welt. Afrikanische Megacitys mit imposanten Sternenfängern und entsprechendem Schachtnetzwerken werden wohl keine Utopie bleiben.
Wer täglich mit dem Aufzug fährt und dabei jedes Mal mit fremden Personen für 20 Sekunden die Kabine teilt, hat verständlich kein Bedürfnis, jedes Mal die Anonymität zu überwinden. Ich empfände das als mühsam und noch viel mehr gespielt. Wozu sollte man das tun? Es kann keine tiefere Bekanntschaft entstehen. Würde die Kabine stecken bleiben, würde sich das schlagartig ändern. Und sofort ändert sich dann auch das Sozialverhalten der Mitfahrer. Also manche dieser Erkenntnisse lassen sich doch ganz logisch begründen. Meist bin ich im Aufzug schon in Gedanken bei meinem nächsten Termin oder Ziel, gehe durch, was ich noch tun muss oder sonstwas. Aber für 20 Sekunden über das Wetter zu reden mit jemand, den ich danach nie mehr wiedersehe, wäre doch etwas sinnlos.
"Würde die Kabine stecken bleiben, würde sich das schlagartig ändern."
Bei einem solchen Vorfall in Japan haben die Beteiligten bis zur Rettung zwei Stunden kein Wort gesprochen. Auch aus eigener Erfahrung bei kürzeren Stopps kann ich nicht sagen, dass die ausgebremsten Personen anfangen, miteinander zu reden.
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